Die Speicherstadt in Hamburg ist nicht nur UNESCO-Weltkulturerbe, sondern mit ihrer Bausubstanz auch eine wertvolle Resource. Ein Weg weisendes Forschungsprojekt soll herausfinden, ob die weltberühmte Lagerlandschaft in Richtung auf ein klimaneutrales Niveau saniert werden kann.
Die zwischen 1885 und 1927 auf 1,1 km Länge errichtete Speicherstadt ist das grösste zusammenhängende Lagerblock-Ensemble der Welt. Seit 1991 steht es unter Denkmalschutz, seit 2015 ist es als UNESCO-Weltkulturerbe besonders strengen denkmal-historischen Auflagen unterworfen. Inzwischen reissen sich Handelsfirmen, Mode-Agenturen und Start-ups um Mietflächen im Quartier. Von den insgesamt 450.000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche vermietet der Hausherr HHLA Immobilien derzeit 300.000 Quadratmeter.
Im Rahmen des Projekts, auf «CO2-neutrales Welterbe Speicherstadt Hamburg» getauft, kooperieren Bau-Spezialisten der Universitäten eng mit Experten der Hafenbetreiber-Gesellschaft HHLA. Die Gebäude werden zu Forschungsobjekten. Die Frage, wie die in Bestandsimmobilien durch den einstigen Bau gespeicherte, also sozusagen «immanente» Energie weiter genutzt werden kann, ohne etwas abzureissen und deutlich billiger neu zu bauen, wird zurzeit auch in Deutschland breit diskutiert. Jeder Abriss bedeute die Vergeudung grosser Mengen noch verwendbaren Materials, heisst es bei der HHLA.
Die sogenannte «graue Energie», die solange im Gebäude gespeichert ist, bis es abgerissen wird, mache im Schnitt 50 Prozent der Energie des gesamten Lebenszyklus aus. Umso länger ein Gebäude daher genutzt werde, desto besser sei es für das Klima.
Jetzt soll die Speicherstadt bis 2040 zum energieeffizienten, CO2-neutralen Quartier umgebaut werden.Tatsächlich läuft das Projekt «CO2-neutrales Welterbe Speicherstadt» schon seit 2021, und soll bis Ende 2024 beendet werden. Finanziell gefördert wird es durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Projektträger ist das Forschungszentrum Jülich. Zum Forschungsverbund gehören die Universität Stuttgart mit dem Institut für Werkstoffe im Bauwesen, der Lehrstuhl für Entwurf und Analyse von Tragwerken an der HafenCity Universität Hamburg sowie die RWTH Aachen mit dem Lehrstuhl für Gebäude- und Raumklimatechnik.
Das «Sandtorkaispeicher» oder «Block H» genannte Kontorhaus dient als Pilotprojekt. Hier wird ermittelt, wie ein ganzer Block im UNESCO-Weltkulturerbe allein durch Nutzung der vorhandenen Dachflächen autark und emissionsfrei mit Wärme versorgt werden kann – ohne die Optik der historischen Dächer zu verschandeln. Das Forschungsvorhaben umfasst die Erzeugung von Solarstrom und Solarthermie, die Speicherung der Wärme mit verschiedenen Verfahren im Untergeschoss sowie die Verteilung und Regelung der Energie im Gebäude mittels Wärmepumpe. Der Nutzeffekt dieser Versuchsanlage wird in der Forschungswerkstatt im Erdgeschoss erprobt und gemessen. Besprechungsräume und Flure sind als Modell-Grossraumbüro mit moderner Dämm- und Heiztechnik versehen.
Alle Fotos: HHLA
Auf dem Dach wurden zwei Aufbauten aus Holzsparren auf einem Stahlrohrrahmen errichtet und mit «solarhybriden Dachsystemen», Imitate von Schiefer-Schindeln - mit blossem Auge nicht von den Original-Dachelementen zu unterscheiden - eingedeckt, die das historische Bild nicht durch Lichtreflexionen oder Farbeffekte herkömmlicher Solarzellen beeinträchtigen. «Sie bestehen weder aus Schiefer noch aus Kupfer, sondern aus Glas», erklärt Professor Harald Garrecht von der Universität Stuttgart. Die UV-Strahlen der Sonne durchdringen eine transparente Schicht, um sowohl Strom als auch Solarthermie generieren zu können.
Angeschlossen ist jedes Modul an ein unterhalb verlaufendes System aus Kupferrohren, durch die ein frostgeschütztes Gemisch aus Wasser und Glykol strömt und die Wärme ins Innere des Blocks transportiert. Gleichzeitig wird im Kreislauf kalte Flüssigkeit von unten zum Erwärmen nachgeführt. Der Strom, den die hybriden Dac module emissionsfrei produzieren, dient zum klimaneutralen Betreiben der Versuchsanlage. Grösster Verbraucher ist neben der Regelelektronik dabei eine Wärmepumpe im Zentrum des Systems. Die Strom- und Wärmeausbeute in verschiedenen Wetterlagen und Jahreszeiten wird zunächst bis Ende 2024 gemessen und ausgewertet.
Im Keller arbeiten zwei Wärmeenergie-Speicher auf Basis unterschiedlicher physikalischer Prinzipien: ein Eis- und ein Betonspeicher. Der hybride Betonspeicher hat einen feststoffgefüllten und wasserdurchströmten Kern, der gut isoliert ist. Im Sommer auf dem Dach generierte Hitze von bis zu 70 Grad kann in diesem einmal aufgeheizten Kern mittelfristig erhalten werden, um die Büroräume des Speichers dann in Übergangszeiten wochenlang mit flexibler Wärme zu versorgen.
In den insgesamt zwölf Zellen des eigens neu entwickelten Eisspeichertyps wird das Phänomen des «Phasenwechsels» ausgenutzt: Dem Wasser im Eisspeicher entzieht ein Wärmetauscher die Energie, bis es gefriert. Die Phase wechselt somit von flüssig zu fest, was einen Latenzwärme-Energieschub bewirkt. Der wiederum, sagen die Ingenieure, lässt sich über die Wärmepumpe zur Versorgung der Fussbodenheizung nutzen.
Unterdessen wärmen die Dachzellen das in den Rohrleitungen zwischen Dach und Eisspeicher geführte Leitungsmedium wieder an. Es wird in den Keller geleitet, zum Auftauen des Eisblocks eingesetzt – und der Zyklus kann erneut beginnen. Ein- bis zweimal pro Woche lasse sich die Wärmeenergie des Eisspeichers «ernten», die pro Kubikmeter Wasser im Speicher etwa 93 kWh ergebe. Das entspreche immerhin dem Wärmeleistungs-Äquivalent von 9,3 Litern Heizöl.
Die Verteilerstelle im Erdgeschoss ist ein komplexes Geflecht aus Rohrleitungen, Reglern, Mess fühlern und Ventilen. Sie sind verbunden mit einem kühlschrankgrossen Kasten: der zentralen Wärmepumpe. Hier laufen die Leitungen von und zu allen Komponenten des energetischen Systems zusammen: von den beiden Energiequellen Solarstrom und Solarthermie auf dem Dach, die Wärmeströme aus dem Eis- und dem Betonhybrid-Speicher, sowie die Zu- und Rückflussrohre der Fussbodenheizung im Versuchs-Grossraumbüro.
Wie effizient das alles in der Realität ist, räumen die Wissenschaftler ein, ist - dito - wissenschaftliches Neuland. Der Modellversuch soll belastbare Daten bringen, erklärt Peter Rosenzweig, Projektleiter bei der HHLA.
Der vollständige Report von Oliver Driesen hier
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